Therapiebeispiel Erwachsene - Fallbeschreibung

"Ich kann mir nicht vorstellen, wie reden helfen soll, gesund zu werden."

Protokoll einer Therapie. Gespräche und Gedanken

Frank A. sitzt auf der vorderen Kante seines Sessels. Angespannt umklammern seine Hände die Lehnen. Er ist sichtlich nervös, beobachtet die Gesprächspsychotherapeutin, teil misstrauisch, teils unsicher. Erkennbar ist aber auch eine Spur Hoffnung in seinen Augen. Seit Jahren hat der 45-jährige Mann Magen- schmerzen. Kein Arzt konnte ihm wirklich helfen. Er hat teure Medizin bekommen. Aber immer, wenn er sie absetzt, kommen die Magenschmerzen wieder. Schliesslich wird er zum Psychiater überwiesen. "Mein letzter Internist meinte, das wäre alles psychisch, weil er nichts Organisches finden konnte", erzählt Frank A. der Therapeutin in vorwurfsvollem Ton. "Beim Psychiater bekam ich Beruhigungsmittel und den Rat, mich nicht immer so aufzuregen und meinen Ärger nicht runter zu schlucken. Meine Magenschmerzen sind geblieben." A. seufzt tief: "Ein alter Freund, dem ich mein Leid geklagt habe, empfahl mir eine Gesprächspsychotherapie bei einer Psychologin."

Keine Ratschläge und Tipps

So oder ähnlich laufen Vorgespräche mit Klienten ab. Die meisten erwarten von der Therapeutin Ratschläge und Trips. Das kennen sie. Das ist ihnen vertraut. Jeder Mensch hat aber bereits die Erfahrung gemacht, dass er einen "guten Rat" trotz bestem Willen nicht so recht befolgen konnte. Ratschläge sind nämlich selten hilfreich.

"Viel besser als Rat von aussen können wir Ideen und Erkenntnisse umsetzen, wenn wir sie selbst entwickelt haben", erklärt die Therapeutin die Grundzüge der Gesprächspsychotherapie. "Deshalb sprechen wir in der Gesprächspsychotherapie auch nicht von "Patienten", sondern von Klienten. Patient heisst auf deutsch der Leidende. Und dahinter steckt das Bild, dass der Patient zu einem Experten geht, der das Wissen darüber hat, was ihm fehlt. Der Arzt behandelt die Symptome; der Leidende lässt das geschehen. Wir haben durch wissenschaftlich Untersuchungen herausgefunden, dass jeder Mensch Experte in eigener Sache ist - oder werden kann. Dabei helfen wir ihm."

Wenn wir Erinnerungen an die Kindheit ausdrücken könnten ...

dann könnte sich Frank A. vielleicht an Folgendes erinnern: Er ist sechs Monate alt, liegt in seinem Bett und weint. Er ist hungrig. Nichts geschieht. Frank A. weint lauter, beginnt zu schreien. Wie eine Ewigkeit kommt es ihm vor, bis seine Mutter sich über sein Bettchen beugt und fragt: "Was hast Du denn? Du kannst doch gar keinen Hunger haben. Deine Zeit ist doch erst in einer Stunde dran", die Mutter ist sichtlich genervt. Frank A. spürt das und brüllt um so lauter. Die Mutter, nun deutlich ärgerlich, will ihren Krimi zu Ende sehen. Sie sagt sehr bestimmt: "Also gib jetzt endlich Ruhe. Du hast nichts! In einer Stunde bekommst Du Dein Essen." Sie eilt davon.

Hier erfährt Frank A., dass sein eigenes Bedürfnis nicht erkannt und folglich auch nicht befriedigt wird. Sein Gefühl wird nicht ernst genommen. Seine Mutter weiss besser als er selbst, wann er Hunger hat. Er erlebt den Widerspruch zwischen dem, was er selbst fühlt, und dem, wie die Mutter sein Schreien bewertet. Das verunsichert ihn zutiefst. Wie alle kleinen Kinder ist Frank A. von seinen engen Bezugspersonen unmittelbar abhängig.

Ob es bei Frank so oder so ähnlich war? Möglich ist es, mit letzter Sicherheit werden wir das nie wissen. Was genau Frank erlebt hat, ist für die Therapeutin auch nicht von entscheidender Bedeutung. Die Therapeutin weiss aber aus der psychologischen Forschung, dass solche oder ähnlich bedeutsame Erfahrungen sich bei Erwachsenen als Problem oder als "Symptom" auswirken können. Kleinkinder erleben ihre Bezugspersonen als äusserst mächtig, als vertrauens- und glaubwürdig. So stellen sie viel eher ihre Wahrnehmung und ihr eigenes Empfinden in Frage als das der Erwachsenen. Also: Frank ist sich - vereinfacht gesagt - irgendwann gar nicht mehr sicher, ob es wirklich der Hunger ist, der ihn da so quält. Franks Selbstbild wird unsicher, sein Selbstwertgefühl gering, er entwickelt kaum Selbstvertrauen ...

Diskrepanz zwischen Erleben und Fühlen

Im Laufe des Erwachsenwerdens kann sich die Diskrepanz zwischen dem, was ein Mensch erlebt und fühlt, und wie andere Menschen ihn bewerten, vergrössern. Er macht das, was andere meinen, zum Mass aller Ding und beginnt seinen eigenen Empfindungen zu misstrauen. Mit der Zeit wird es immer schwieriger, mit derartigen Widersprüchen zu leben. Das Resultat ist, dass der Mensch krank wird. Seelisch oder körperlich, zumeist beides.

Die Therapeutin weiss, dass Frank ihr als reale Person begegnet und gleichzeitig seine frühen Erfahrungen mitbringt und die daraus entwickelten Erwartungen und Befürchtungen an andere und so auch an sie heran trägt. Wichtig ist für sie, zu beobachten und vor allem in sich zu erfahren, wie Frank auf sie wirkt, wie er seinen Beziehung zu ihr gestaltet.

Solche Erkenntnisse und Zusammenhänge fließen in jede Gesprächspsychotherapie mit ein. Hier kann die Klientin/der Klient offen und frei über alles sprechen, was er erlebt und fühlt. Die Therapeutin geht auf Frank A. ein, ohne ihn oder seine Handlungen zu bewerten, oder als "Fachfrau" nach den möglichen Ursachen zu graben. Sie wird ihre Professionalität nutzen und ihm helfen, seine Erwartungen und Befürchtungen in der realen Situation mit ihr und auch gegenüber anderen Personen zu verstehen, diese mit ihm zu prüfen und ggf. zu korrigieren. Wichtig ist nicht nur, was die Klientin/der Klient sagt, sondern auch, wie er sich bewegt. Gestik und Mimik werden einbezogen. Entscheidend ist, dass die Therapeutin/der Therapeut, egal was die Klientin/der Klient ihm offenbart, die Klientin/den Klienten bedingungslos achtet und respektiert. Das ist für den Erfolg der Therapie ausschlaggebend.

Wissenschaftlich Erfahrungen haben gezeigt, dass die Klienten/der Klient der Therapeutin/dem Therapeuten oftmals in der therapeutischen Beziehung begegnet wie anderen Menschen im täglichen Leben. In der Therapie erlebt die Klientin/der Klient aber, dass die Therapeutin/der Therapeut anders als gewohnt reagiert. Aufgrund ihrer Ausbildung erkennt die Therapeutin/der Therapeut die Beziehungsmuster, die hinter dem Verhalten der Klientin/des Klienten stecken. Sie/er vermittelt der Klientin/dem Klienten dieses Wissen, indem sie/er genau das anspricht, was ihr/ihm auffällt und nicht so reagiert wie die Freundin, der Lehrer, die Chefin. Hier fliessen auch die Empfindungen der Therapeutin/des Therapeuten mit ein. In diesem offenen und angenehmen Klima kann es der Klientin/dem Klienten gelingen, die Wertschätzung zu erfahren, die sie/er bislang nicht kannte. Sie/er lernt auf die eigenen Gefühle zu achten und sich selbst und andere positiver zu bewerten.

Sie/er erfährt oft erstmalig die Kraft einer guten Beziehung, in der sie/er das Vertrauen in die eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen zurückgewinnt.

In der neunten Stunde der Durchbruch

Frank A. beklagt sich in der neunten Therapiesitzung bitter: "Mir werden dauernd Sachen aufgedrückt, die ich machen soll. Erst gestern wieder. Verlangt doch meine Frau, ich soll die Wintersachen in die Reinigung bringen. Ich war gerade dabei, ein kniffliges Problem mit meinem PC zu lösen. Ich lasse natürlich alles stehen und liegen. Der Computer Stürzt ab. Ich stürze in die Reinigung. Seitdem spielt mein Magen verrückt." Die Therapeutin sieht Frank A. offen an: "Sie haben gemerkt, dass Sie eigentlich etwas ganz anderes wollten. Sie waren ziemlich ärgerlich über den Wunsch Ihrer Frau." Frank A. wird zunehmend bewusst, dass er eigene Wünsche und Gefühle hat, die sich notfalls als Magenschmerzen Gehör verschaffen. Die Therapeutin zeigt ihm: "Ich nehme Ihre Gefühle wahr. Ich akzeptiere Ihre eigenen Wünsche und Gefühle und nehme sie so an, wie Sie sind." Frank A. kann zunehmend unterscheiden, was seine Empfindungen und Bedürfnisse sind, und was von aussen an ihn herangetragen wird. Allmählich entwickelt er Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl...

Verschmitztes Grinsen

Zwei Jahre sind seit der ersten Therapiestunde vergangen: Frank A. sitzt entspannt und zurück gelehnt im Sessel. Er hat die Hände locker vor dem Bauch gefaltet. "Also gestern, kurz vor Feierabend, da kommt mein Chef rein und will mir noch das Protokoll der letzten Sitzung aufs Auge drücken. Ganz, ganz dringend sei das." Frank A. grinst die Therapeutin verschmitzt an: "Und ich habe freundlich, aber bestimmt gesagt, dass ich heute gerade noch die Auflistung der neuesten Verkaufszahlen schaffe. Und der Chef, der hat erst einmal verblüfft geguckt. Dann hat er gemurmelt. "Naja, kann ja auch Herr B. Schreiben , das Protokoll. Ich sehe ja, dass Sie noch viel zu tun haben." Triumphierend fügt Frank A. hinzu: "Richtig gut ist es mir danach gegangen. Und mein Magen, der hat keinen Mucks gesagt."

Textteile übernommen aus GWG Stärken stärken - Im Sprechzimmer einer Gesprächspsychotherapeutin